Arsch auf Augenhöhe
Auf einmal ist alles ganz anders
Verdammt, warum geht er nicht ans Telefon? Jetzt rufe ich schon zum dritten Mal zu Hause in Düren-Lendersdorf an. Es klingelt und klingelt, der Anrufbeantworter springt auch nicht an. Also muss er doch zu Hause sein.
Er vergisst nie, den Anrufbeantworter einzuschalten. Eher vergisst er, ihn wieder auszuschalten. Er schaltet ihn immer ein. Auch wenn er nur mal kurz aus dem Haus ist. Zur Bank Geld holen oder zur Post. So was macht er gerne abends, wenn es in der Stadt nicht mehr so voll ist und er bequem einen Parkplatz bekommt. Jetzt, wo er das alles selber machen muss. Denn seit sieben Jahren führten wir eine Wochenend-Ehe.
Ich wohne die Woche über in Nidderau-Heldenbergen, kam für gewöhnlich freitags abends nach Hause und fuhr meistens sonntags abends gegen 21 Uhr wieder nach Nidderau in meine Zweitwohnung. Dort wohne ich, seit ich im September 1990 bei Subaru Deutschland als Leiterin PR/Presse angefangen habe.
20:30 Uhr. Wieder und wieder wähle ich die Nummer in Düren. Keine Antwort. Dann rufe ich Hans an, den Sportleiter des Rheydter Club für Motorsport (RCM). Hans nimmt ab:
„Hintzen.“
„Hans, sag mal, ist heute Abend irgendwo eine Versammlung, wo Gerd sein könnte? Ich erreiche ihn nämlich nicht zu Hause.“
„Nein“, antwortete der. „Gerd muss zu Hause sein. Ich habe heute Nachmittag so gegen 16 Uhr noch mit ihm telefoniert. Wir haben über unser Rennen gesprochen.“
„Sag mal, hat er sich irgendwie komisch angehört, anders als sonst?“
„Nein, überhaupt nicht. Wir haben ganz normal miteinander geredet. Es ging im Wesentlichen um den Donkervoort-Club. Die Jungs wollen ja zwischen Training und Rennen ein paar Runden auf der Nordschleife fahren.“
Vorstand und Mitglieder des Rheydter Club für Motorsport waren in den Vorbereitungen zum Rennen, einem von zehn Läufen zum Langstreckenpokal.
„Ja“, ergänzte Hans, „und ich habe ihm die Ausschreibung gefaxt. Er wollte sie durchlesen und mir dann Bescheid geben. Aber bis jetzt hat er sich noch nicht gemeldet.“
„Danke, Hans“, sagte ich und legte auf.
Meine Stimme zitterte, ich bekam ganz kalte Hände.
Da konnte etwas nicht stimmen!
Ich wurde furchtbar nervös, jetzt zitterte nicht nur die Stimme, sondern der ganze Körper flatterte.
Mit fliegenden Fingern wählte ich die Telefonnummer unserer Haushälterin Olga. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich bat Olga, zu Gerd rüberzugehen und nachzuschauen, was da los war. Olga sagte mir, dass ihre Tochter Silvia eben bei Gerd war und ihm ein Körnerbrot für morgen früh zum Frühstück bringen wollte. Sein Auto stand vor der Türe, aber er hat nicht aufgemacht.
„Olga“, rief ich flehend ins Telefon, „du musst sofort mal zu Gerd fahren. Da ist was nicht in Ordnung. Der geht nicht ans Telefon, schon seit über zwei Stunden nicht.“
„Ist gut, Jutta, ich fahr hin“, versicherte sie.
„Olga, sofort! Bitte! Ich mache mir solche Sorgen!“
‚Vielleicht spinne ich ja‘, dachte ich, aber es kroch ganz langsam in mir hoch und lähmte mich. Mein Herz klopfte bis zum Hals.
Dann starrte ich unentwegt auf das Telefon. Als ob ich dadurch etwas erreichen könnte, als ob die Zeit schneller vorbeigehen würde …
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Olga sich wieder meldete. Diesmal aus unserer Wohnung in Lendersdorf.
„Jutta …“, druckste sie herum, „Jutta, es ist etwas Schlimmes passiert!“
„Olga – WAS ist passiert?“, schrie ich in den Hörer. „Was, Olga? Sag was!“
„Gerd liegt angezogen auf dem Bett, hat die Augen auf, aber er reagiert nicht. Er guckt durch mich durch.“
„Olga, ruf sofort vom anderen Telefon den Notarzt an.“
Ich blieb wie hypnotisiert in der einen Leitung und hörte, wie Olga mit dem Notarzt telefonierte und ihn bat, sofort zu kommen.
Olga war nicht alleine rübergegangen, Silvia war bei ihr. Das war auch gut so, denn so konnte Silvia auf die Straße laufen, um dem Fahrer des Krankenwagens den Weg zu zeigen, während Olga noch telefonierte. Das Haus in Lendersdorf war ein wenig versteckt und nicht gut zu finden. Und so was gerade jetzt, wo jede Sekunde zählte …
Dann ging alles ganz schnell. Am Telefon habe ich weiterverfolgt, was passierte. Klingeln, Türöffner, Stimmen, Geräusche und Olgas Stimme dazwischen. Wie gebannt hielt ich den Hörer in der Hand, unfähig mich zu bewegen.
„Gerd! Gerd!“, stammelte ich immer wieder ins Telefon. „Gerd, was ist los, sag was.“ Und „Olga, Olga.“
Als der Notarzt schließlich mit Gerd auf der Trage draußen war, kam Olga wieder an den Apparat:
„Sie bringen ihn ins Augustiner-Krankenhaus nach Lendersdorf. Ich gehe dann auch rüber.“
„Olga, ich komme, so schnell es geht.“
Das Krankenhaus war in unmittelbarer Nähe unserer Wohnung, man konnte es vom Küchenfenster aus sehen.
„Ich muss jetzt Ruhe bewahren, und ich muss sofort nach Düren“, sagte ich mir und versuchte, mich zusammenzureißen.
„Ich muss Michael anrufen, dass er mich fährt. Ich kann doch jetzt nicht Auto fahren!“ Michael Tengler war der „gute Geist“ von Subaru Deutschland. Eigentlich organisierte Michael den gesamten Fahrdienst mit Testwagen, bei Präsentationen und für die Marketing-Abteilung bei Messen und Ausstellungen. Aber uneigentlich war Michael immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Manchmal auch zu unmöglichen Uhrzeiten – wie jetzt.
Michael war mir als Fahrer sehr angenehm, denn er hatte einige Jahre Medizin studiert und konnte mir während der Fahrt ein wenig Trost zusprechen. Auf dem Weg nach Düren rief Olga noch einmal an und versicherte, dass Gerd jetzt in guten Händen sei. Ich solle mir keine Sorgen machen.
Um 23:30 Uhr kamen wir im Lendersdorfer Krankenhaus an. Der diensthabende Arzt erklärte mir, dass Gerd vor etwa zehn Tagen einen schweren Herzinfarkt gehabt haben musste.
Da Gerd schon so lange ohne Hilfe alleine im Haus gelegen hatte, konnten sie an seinem Hirninfarkt nichts mehr tun. Normalerweise gehen die Ärzte sofort mit einer Lyse an die verstopfte Stelle ran und lösen den Pfropfen auf, aber Gerd lag ja schon mindestens fünf Stunden dort. Und was wird uns immer und immer wieder gesagt? Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute. Bei Gerd waren es über 300 Minuten…
Was war denn eigentlich so plötzlich mit Gerd passiert? Ich begriff es nicht. Vier Tage vorher hatte er mich mit Olga und deren Tochter Silvia in meiner Zweitwohnung in Nidderau-Heldenbergen besucht. Wir hatten so ein schönes Wochenende, waren samstags im Tigerpalast und haben sonntags in der Villa Stokkum gebruncht. Was um alles in der Welt war denn da geschehen?
Liebe auf den zweiten Blick
Samstag, 14. Oktober 1967. Eine Kleinstadt in der Nähe von Düsseldorf. Mami, Papi, Onkel Helmi und ich saßen am Frühstückstisch. Draußen vor der Türe stand Onkel Helmis Ford Transit. Gepackt mit meinen wenigen Habseligkeiten – mein roter Designer-Drehsessel, grünes Tongeschirr für vier Personen und ein flammneues Silberbesteck, ein paar Klamotten. Wir waren abfahrbereit nach München, Landsberger Straße. Für meinen Umzug in ein neues Leben. Ich hatte verdammtes Glück gehabt:
Mein Job bei der Grevelour war nicht der Hit, es war alles so dörflich-ländlich, und ich wollte raus ins pralle Leben. Allerdings hatte ich mit interessanten Leuten zu tun. Einer meiner Kunden war Leo Kircansky. Der hatte mich vom Fleck weg engagiert nach München in seinen Import-Export-Laden.
Sofort sollte ich bei ihm anfangen, am liebsten gestern. Aber ich hatte Kündigungszeiten und konnte frühestens zum 15. Oktober in München anfangen. Das war ein Sonntag, also wäre Montag der 16. mein erster Arbeitstag gewesen.
Gestern war Freitag der Dreizehnte.
„Jutta, ich fahre Dich gerne bis ans Ende der Welt“, sagte Onkel Helmi, „aber nicht an einem Freitag dem Dreizehnten.“
Mami und Papi fuhren natürlich mit nach München. Sie wollten doch sehen, wo ihre Tochter die nächsten Jahre ihres Lebens verbringen würde.
Und so saßen wir mit großer Vorfreude ungeduldig am Frühstückstisch, auf dass es endlich losgehen sollte.
Da klingelte es an der Türe. Ich zuckte zusammen.
Es war der Postbote.
Er brachte einen Eilbotenbrief.
Absender: Kircansky.
Zitternd öffne ich den Brief. Mir wurde kalt und heiß und wieder kalt. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen: Leo Kircansky hatte mich wieder „ausgeladen“, kann mich nicht zum 15. Oktober engagieren, weil seine derzeitige Sekretärin sich weigerte, ihren Vertrag vorzeitig zu beenden. Und zwei Sekretärinnen konnte er sich finanziell nicht leisten. Er erwartete mich aber mit Ungeduld am 1. Januar 1968.
Oh, shit! Was mach ich denn jetzt bloß? Wo wir doch gleich abfahren wollten … Ich hatte ein bisschen Geld in der Tasche vom Verkauf meines Opel Kadett, aber reichte das, um anderthalb Monate in München ohne Job zu überstehen?
Relativ schnell habe ich mich wieder gefangen, den Kopf in den Nacken geworfen, den Brief angeschaut und trotzig mit dem nicht anwesenden Leo Kircansky geredet:
„So, mein Herr, wenn du mich jetzt nicht haben willst, kannst du mich überhaupt nicht mehr kriegen!“
Sprachs und schnappte mir die Rheinische Post.
Blätter, blätter. Wo sind die Stellenanzeigen? Ach hier ist ja was: „Phonotypistin gesucht. Rekord Apparatebau in Korschenbroich.“ Eine was? Eine Apparatebaufirma in unserem Dorf, und die kenne ich nicht? Na, dann mal ab aufs Fahrrad und hin. Es war nicht so weit weg, gerade mal die Straße runter. Da ist sie ja, diese Weltfirma! Roter, flacher Backsteinbau. Na klar, das Gebäude kannte ich, wusste aber nicht, wer oder was sich dahinter verbarg.
Die meisten Rollladen waren heruntergelassen, einige waren einen Spalt offen. Ich lehnte das Fahrrad an die Mauer, ging auf den Eingang zu. Die große Aluminiumtüre war verschlossen, ich rüttelte mal kurz und lauschte. Ich konnte nichts hören. Dann fand ich eine Klingel und drückte energisch drauf. Ich lauschte wieder, dann hörte ich Schritte.
„Guten Morgen. Sie wünschen?“, fragte mich ein freundlicher Herr mit einem blonden Lockenkopf.
„Guten Morgen“, sagte ich mit meinem strahlendsten Lächeln.
„Ich habe in der Rheinischen Post gelesen, dass Sie eine Phonotypistin suchen. Hier ist sie, sie steht vor Ihnen. Und sie kann am Montag anfangen.“
„Aha“, er schaute mich interessiert an. „Dann kommen Sie doch mal rein.“
Es war der Prokurist Adolf Walbeck, und da kam auch schon der Boss Hans Sasserath, ein älterer kugelrunder lustig aussehender Typ mit Glatze.
‚Da habe ich ja gleich die beiden Richtigen zusammen‘, dachte ich und erzählte ein bisschen von mir, von meiner Ausbildung auf der Höheren Handelsschule und davon, dass ich am Montag schon mit meiner Arbeit beginnen könnte.
Sie waren wohl überzeugt von meinem Auftreten, und sie schienen einen richtigen Engpass zu haben, denn es freute sie ganz besonders, dass ich den Job so kurzfristig antreten konnte.
Reden übers Gehalt war nur noch eine Formsache. Es war okay, und ich war einverstanden. Und Montag stand ich um acht Uhr auf der Matte. Um fünf nach acht hatte ich den Stöpsel im Ohr und schrieb Geschäftsbriefe vom Band. Als hätte ich seit Jahr und Tag nichts anderes gemacht.
Als Erstes habe ich den Briefstil der Herren verbessert. Später habe ich auch die ausländische Korrespondenz in Englisch und Französisch übernommen. Die Chefsekretärin war ganz schön angesäuert.
Aber alle anderen waren sehr nett zu mir. Vor allem Marianne Debbert. Sie war zuständig für die Versandpapiere.
„Hast Du eigentlich einen Freund?“, fragte sie mich eines Tages.
„Nein“, antwortete ich. „Im Moment nicht.“
Ich hatte für mein geplantes neues Leben in München auch alle privaten Zelte abgebrochen und mich von meinem „Bratkartoffel-Verhältnis“, einem Studenten aus Aachen, getrennt.
„Dann komm doch mal zu uns in den Motorsportclub. Ich bin da Geschäftsführerin. Und in dem Club sind lauter nette Jungs. Besonders der eine, der ist gerade frisch geschieden.“
Sie lud mich ein zum nächsten Clubabend.
Der war immer freitags. Wie kam ich denn jetzt nach Odenkirchen? Meinen Opel hatte ich verkauft. Außerdem brauchte ich kein Auto. Zur Arbeit kam ich ja mit dem Fahrrad, und meine Eltern hatten ein Auto und die Eltern meiner Freundinnen auch. Aber die wollte ich nicht bitten, mich in so einen Rennfahrer-Club zu fahren.
Nun, auf dem Dorf kannte man sich halt, und ich bat einen meiner Freunde vom „Land-Adel“, mich nach Odenkirchen zu fahren. Mit seinem Mercedes. Alle Bauern in Korschenbroich fuhren Mercedes.
Tja, und da stand ich dann in der Türe des Clublokals „Beller Hof“. Auf dem Parkplatz jede Menge aufgemotzter Autos, mit Spoiler, breiten Reifen, dicken Auspuffrohren, bunten Aufklebern usw.
Ich ging rein. Es waren in der Tat fast nur Jungs dort, so 20 mehr oder weniger freundliche junge Männer. Sie unterbrachen ihre Reden, schauten zu mir. Wenige Frauen dabei. Dann sah ich Marianne. Sie stand auf, kam freundlich auf mich zu und stellte mich vor:
„Das ist die Jutta aus Korschenbroich. Sie möchte Clubmitglied werden.“
Hatte ich das gesagt? Also so direkt bestimmt nicht, ich wollte doch erst nur mal schnuppern.
Gewiss, Autofahren hat mir schon immer sehr viel Spaß gemacht. Auch als ich vom Alter her noch gar nicht durfte, habe ich mich ans Lenkrad gesetzt. Das erste Mal mit 16. Ich arbeitete damals bei einem Bauingenieur, der während der Bauferien in Urlaub fuhr und mir das Büro mit einer Monteur-Mannschaft für Notfälle überlassen hatte. In der Garage standen seine VW-Bullis. Es hat mich so gejuckt, mal Auto zu fahren, dass ich mir einen VW geschnappt habe und damit nach Mönchengladbach-Windberg zur Kirmes gefahren bin. Als dann ein Polizeiauto in Sicht war, habe ich Muffen gekriegt und bin auf eine Baustelle gefahren, bis ganz hinten durch. War ja nicht auffällig, den auf dem Auto stand drauf: Leo Wassen, Isolierungen. Ich habe mich dann von den dortigen Bauarbeitern wieder ins Büro zurückfahren lassen. So wirkt also Adrenalin!
Sechs Fahrstunden, die siebte Stunde war schon die Prüfungsstunde. Damals „ging“ ich mit Horst Holte aus Viersen. Der fuhr einen BMW Tisa. Heißes Gerät! Horst stand damals mit genau diesem Gerät vor der Fahrschule. Die Tinte von meiner Unterschrift auf dem Führerschein war noch nicht trocken, aber er ließ mich mit seinem BMW stundenlang kreuz und quer durch die Eifel fahren.
Ein paar Monate später habe ich mir den Opel Kadett gekauft und bin erst mal nach Jugoslawien in Urlaub gefahren. Mutterseelenalleine. Habe 5.000 Kilometer abgespult. Und hatte nur einen Auffahrunfall in München.
Ich wollte unbedingt immer schon mal zum Nürburgring. Leider hat mein Vater mich nie mitfahren lassen, wenn Horst und seine Clique das Wochenende am Ring verbrachten. Seine Tochter – über Nacht wegbleiben? Ha, das war ja wohl das Letzte. Dass Horst ein Appartement in Mönchengladbach hatte, wusste er nicht. Insofern waren seine Befürchtungen, ich würde im Hotel am Nürburgring was „Schlimmes“ tun, völlig unbegründet, denn das „Schlimme“ war ja schon längst passiert …
Und jetzt stand ich da im Kreise von Motorsportlern und wurde herzlich aufgenommen bei der Wilde-Reiter-GmbH. Marianne gab mir augenzwinkernd einen Hinweis auf den Mann, „der gerade frisch geschieden war“. Er hieß Gerd, er sah gut aus, hatte ein freundliches, offenes Lachen und ein sehr angenehmes Wesen. Ja, er gefiel mir. Aber da saß eine Frau neben ihm, die offensichtlich zu ihm gehörte. Sie war klein, zierlich, hatte schwarze lange Haare und war so ziemlich das genaue Gegenteil von mir. Ich war groß, nicht gerade schlank, und meine Haare waren kurz und blond.
‚Schade eigentlich‘, dachte ich. ‚Er steht also auf Wespentaille. Aber gut finde ich ihn trotzdem.‘
Ich stürzte mich rein in den Club und war gleich mittendrin. Kontaktarmut ist sowieso nicht mein Ding, und so schloss ich rasch Freundschaft mit den Jungs und Mädels vom Motorsportclub.
Die nächsten Wochen und Monate vergingen wie im Fluge: Jeden Freitag Clubabend mit kleinen Orientierungsfahrten, anschließend Siegerehrung auf der Bowlingbahn und Quatschen und Trinken bis in die frühen Morgenstunden. Und immer in der Nähe des Mannes, „der gerade frisch geschieden war“. An den Wochenenden starteten wir bei befreundeten Clubs in der Umgebung bei deren Clubfahrten, bei Fuchssuchfahrten und Rallyes.
Natürlich stellte ich mich auch ehrenamtlich zur Verfügung und löste bei der Jahreshauptversammlung Marianne als Schriftführerin ab, um offiziell und öfter mit Gerd zusammen sein zu können. Er war Sportleiter, und so hatten wir oft gemeinsam für den Club zu arbeiten. Wir waren uns total sympathisch, verstanden uns blind, jeder wusste, was der andere sagen wollte, was zu tun war – für den Club meine ich. Es knisterte zwischen uns, aber so richtig sprang der Funke noch nicht über. Denn da war ja auch immer seine Freundin Rosi dazwischen. Und immer Willy, der zweite Sportleiter, mit dem ich mich angefreundet hatte. Aber das mit Willy war rein platonisch.
Gerd und ich sahen uns sehr oft, und er hat mich auch immer mit seinem VW Käfer nach Hause gebracht, aber immer war Willy dabei. Erst hat er mich in Korschenbroich abgeliefert und dann Willy nach Hause gefahren.
‚Warum zum Teufel bringt er nicht mal zuerst den Willy nach Hause und dann erst mich?‘, fragte ich mich.
Dann kam Karneval. Es war eine große Fete angesagt bei Rosi in Krefeld. Sie züchtete Pudel und war auch sonst ziemlich etepetete. Ich ging mit Willy hin, und natürlich war Gerd dort. Irgendwie plätscherte der Abend so dahin, bis ich auf einmal neben Gerd auf der Couch saß. Wir unterhielten uns stundenlang über Gott-und-die-Welt. Von da an weiß ich nicht mehr, wie die Party weiterging, ich weiß nur noch, dass Gerd und ich geredet und geredet und geredet haben. Rosi hat zwischendurch auch mal mit Gerd reden wollen und der Willy auch mal mit mir. Keine Chance. Gerd und ich waren in einem langen Gespräch, das nicht enden wollte. Ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung, wie lange wir da gesessen haben. Irgendwann hat Willy mich dann nach Hause gefahren. Draußen war es schon hell.
Die Fastenzeit machte ihrem Namen alle Ehre: Gerd und ich haben uns fast nicht gesehen. Aber dann kam der Karfreitag. Clubfahrt war angesagt.
„Magst Du nach der Clubfahrt mit mir zum Nürburgring fahren?“, fragt Gerd.
Mein Herz jubelte! Ich hätte schreien können. Endlich hat es geklappt: Alleine mit Gerd UND zum Nürburgring. Ich konnte es nicht fassen.
„Na klar“, sagte ich, so cool ich konnte.
„Okay, aber sage den anderen nichts davon, sonst wollen die auch mit“, bat er mich. „Ich möchte mit dir alleine sein.“
Ja bin ich denn bescheuert? Jetzt, wo ich endlich mal mit ihm alleine bin, versaue ich mir das doch nicht!
Die Clubfahrt war mir schnurz-piep-egal. Ich fieberte der Fahrt zum Nürburgring entgegen. Endlich war es so weit. Gerd tat den anderen gegenüber so, als würde er mich nach Hause fahren, ich stieg ein – und ab ging die Post Richtung Eifel.
Wir plauderten und plauderten und plauderten, und plötzlich standen wir an der Nordschleife. Am Tor zu dieser wunderbaren „grünen Hölle“, der gefährlichsten Rennstrecke der Welt. Dort, wo ich immer schon mal hinfahren wollte und nie durfte.
Gerd hatte eine Zehnerkarte für den Nürburgring. Er gab sie einem der „grünen Männchen“ (nein, es waren keine Aliens, wir nannten die nur so, weil sie immer grüne Uniformen trugen), der strich eine Runde ab – und los gings.
Gerd aktivierte alle 54 Pferdestärken seines VW Käfers, schaltete, gab Zwischengas, fuhr auf der linken Straßenseite, auf der rechten Seite, fuhr in den Himmel, ich sah nichts mehr, dann ein Knick in einer Senke, eine ganz langgezogene Rechtskurve, zwei Linkskurven mit nur einem Lenkeinschlag, rumms ins Karussell, er fuhr und fuhr und schaltete und bremste kurz ab, gab wieder Gas. Es war ein sagenhaftes Gefühl. Achterbahn ist nichts dagegen. Dann die lange Gerade. Und dann waren wir wieder an Start und Ziel.
„Darf ich auch mal fahren?“, fragte ich. Ich war so was von begeistert, dass ich gleich selbst diese Rennstrecke unter die Räder nehmen wollte.
Gerd war bass erstaunt.
„Das hat noch nie eine gesagt! Ich bin schon oft mit Mädels hier gewesen, aber selbst fahren? Nein, das wollte bisher noch keine.“
Und zu meinem großen Erstaunen stieg er aus und überließ mir den Fahrersitz.
„Ups“, dachte ich, „der muss aber großes Vertrauen zu mir haben.“
Das hatte er in der Tat, und er lehrte mich die ersten Tricks auf dieser wahrhaft schwierigen Rennstrecke: Am Flugplatz, wenn es in den Himmel geht und man nicht sieht, wo die Straße weitergeht, nach rechts einlenken, wenn man links die kleine Stichstraße sieht. Aus dem Kurvengeschlängel der Fuchsröhre eine einzige Gerade machen, die Linkskurve unten am Adenauer Forst fängt einen schon auf, Bergwerk ganz links, bis man die Spitze eines Hauses erkennen kann, und dann erst nach rechts einschlagen, dann die beiden Linkskurven nach dem Bergwerk ohne Lenkradkorrektur in einem Zug durchfahren, ins Karussell erst sehr spät reinfahren, das Lenkrad ganz fest halten und am flachsten Punkt wieder rausfahren usw. usw.
Wir sind viele Runden gefahren an diesem Karfreitag, immer abwechselnd. Die ‚grünen Männchen‘ waren von uns so begeistert, sie haben immer dieselbe Stelle der Zehnerkarte abgestrichen, so dass wir am Ende des Tages immer noch acht Runden offen hatten, obwohl wir Runde um Runde gedreht hatten.
Erschöpft, aber glücklich sind wir dann nach Hause gefahren. Aber nicht zu mir, sondern zu ihm. Seine Mutter war über Ostern bei seiner Schwester in Düren, und Gerd hatte sturmfreie Bude.
Irgendwie sind wir dann wie ausgehungert übereinander hergefallen, haben uns die ganze Nacht immer und immer wieder geliebt. Es war alles so neu und trotzdem so vertraut. Obwohl das mit uns ja erst auf den zweiten Blick gefunkt hat.
Wir haben die Missverständnisse aber rasch geklärt:
Ich dachte, Gerd steht auf super-schlanke zierliche schwarzhaarige Frauen. Und Gerd dachte, ich stehe auf reiche Bauern-Jungs mit Mercedes.
Von diesem meinem ersten Liebes-Wochenende mit Gerd bin ich erst Ostermontag nach Korschenbroich ins Elternhaus zurückgekehrt. Fröhlich pfeifend und mit frischen Brötchen, die ich in der Bahnhofsbäckerei gekauft hatte.
Gerd musste unbedingt noch zu Rosi nach Krefeld fahren, um sich von ihr zu verabschieden. Ich wusste, dass er sich wirklich nur verabschieden wollte.
„Die Jutta ist doch keine Frau für dich“, war das Erste, was sie zu ihm gesagt hat.
Rosi hatte ihm in den folgenden Wochen noch ziemlich zugesetzt. Psycho-Terror, Telefon-Terror, die ganze Palette. Sie hat ihn in der Firma angerufen und bedroht:
„Ich bringe mich um, wenn du nicht zu mir zurückkommst!“
„Dann wünsche ich dir eine angenehme Himmelfahrt“, konterte Gerd cool. Seine Chefin hat das mitgehört und hat sich nicht mehr eingekriegt vor Lachen.
Seit diesem Osterfest waren Gerd und ich ständig zusammen. Ich war selten zu Hause, ging zwar meiner geregelten Arbeit nach, aber abends kam Gerd mich in der Firma abholen, und wir verbrachten den Abend und die Nacht zusammen.
Anfangs hat Gerd mich nur zum Aufstehen nach Hause gefahren. Gegen halb sechs entklammerten wir uns, Gerd fuhr mich um sechs Uhr heim, ich schlich mich nach oben. Damals hatte ich ein eigenes kleines Reich in unserem Haus, im Dachgeschoss. Ich musste zwei Treppen hoch bis zu meiner Wohnung. Meine Mutter kam mich um halb sieben wecken. Meine Eltern haben nie etwas gemerkt, denn über die eine knarrende Stufe auf der Treppe bin ich immer ganz vorsichtig drübergestiegen.
Von Anfang an waren Gerd und ich uns so sehr vertraut, dass die Frage nach Heiraten irgendwie ganz selbstverständlich kam. Gerd hatte mich mal mitten in der Nacht, zwischen zärtlichen Umarmungen ziemlich unromantisch gefragt:
„Sag mal, was hältst Du davon, wenn wir heiraten?“ – Oh, ich hielt ganz viel davon.
Am 19. Juli 1968 haben wir geheiratet, drei Monate nach jenem denkwürdigen Karfreitag auf dem Nürburgring.
Gerd hatte noch sehr viele persönliche Dinge in Rosis Wohnung. Er bat unseren gemeinsamen Freund Willy, seine Sachen dort abzuholen. Willy holte die Dinge alle einzeln ab. Als er schließlich alles zu Gerd zurückgebracht hatte, haben Rosi und Willy geheiratet. Und wenn sie nicht gestorben sind …
Doch das Märchen von Jutta und Gerd hatte letztlich kein gutes Ende. Gerd ist am 19. August 2005 gestorben. Genau 37 Jahre und einen Monat nach unserer Hochzeit.